Fortschritt
Mein lieber Sohn,
lass uns ein Gedankenexperiment machen. Stell dir eine Welt vor, in der alle Probleme gelöst sind - keine Armut, kein Hunger, kein Leid. Aus heutiger Sicht scheint das unmöglich, aber wenn du diesen Brief liest, sind wir dieser Welt vielleicht schon ein Stück näher gekommen.
Das Gedankenexperiment ist zeitlos. Seit den geistigen Anfängen unserer Vorfahren stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns noch bleiben, wenn wirklich alle Probleme gelöst sind. Wenn es keinen Fortschritt mehr zu erringen gäbe. Ist es nicht das, wonach wir streben - ein Leben, das etwas bewirkt hat, das Sinn macht? Was aber, wenn uns dieser Antrieb genommen wird?
Keine einfache Frage. Aber vielleicht hat Albert Camus eine mögliche Antwort gefunden. Camus schrieb über das Absurde - den Widerspruch zwischen unserer tiefen Sehnsucht nach Bedeutung und der Gleichgültigkeit des Universums. Für ihn war das Leben wie die Aufgabe des Sisyphos aus der griechischen Sage: dazu verdammt, immer wieder denselben Stein den Berg hinaufzurollen, nur um ihn am Gipfel wieder hinunterrollen zu müssen. Doch statt Sisyphos als gescheiterten Menschen zu sehen, zeichnet Camus ihn als jemanden, der in seiner Aufgabe Erfüllung findet - trotz oder gerade wegen ihrer Sinnlosigkeit. „Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schreibt Camus.
Vielleicht, mein Sohn, liegt der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben darin, das zu tun, was du liebst und was du gut kannst, und damit die Welt um dich herum ein wenig besser zu machen. Nicht, weil das Leben dir einen tieferen Sinn schuldet, sondern weil du die Freiheit hast, ihm einen Sinn zu geben. So wie Sisyphos, der seinen Felsbrocken Tag für Tag mit Würde und Kraft den Berg hinaufrollt.
In Liebe, Papa.